HISTORISCHE ROSTOCKER BAUWERKE
Der Zwinger vor dem Rostocker Steintor
Zu seiner Berücksichtigung in Stadtplänen und -ansichten*
von Joachim Lehmann
Der Zwinger vor dem Steintor gehörte, zumal im Ensemble mit diesem, zu den eindrucksvollsten Bauwerken der mittelalterlichen Stadtbefestigungen in Rostock.
Ganz allgemein bezeichnet der Begriff Zwinger einen Teil der mittelalterlichen Befestigungsanlage bei Städten und Burgen, nämlich den unbebauten Bereich zwischen Haupt- oder Ringmauer und vorgelagerter Zwingermauer, gelegentlich auch der bei großen Anlagen einen zur Vorburg gehörenden Freiraum. Die meisten Zwingeranlagen wurden älteren, einfachen Ringmauern nachträglich vorgelegt, und in vielen Fällen später mit Scheunen, Ställen und Lagerhäusern bebaut, als ihre Wehrfunktion entbehrlich wurde. Besonders in der Hussitenzeit (um 1420/30) entstanden eindrucksvolle Beispiele, die meist im Hinblick auf den Einsatz früher Feuerwaffen geplant wurden. Entgegen weit verbreiteter Vorstellungen war die Nutzung des Zwingers als Turnierplatz gänzlich unüblich. Seit dem 15. Jahrhundert kann mit einem Zwinger auch ein umzäunter Auslauf für Hunde oder wilde Tiere gemeint sein.
Rostock verfügte im Verband seiner mittelalterlichen Stadtbefestigung über einen gemeinhin als Zwinger bezeichneten Wehrturm im Süden der Stadt vor dem Steintor, der nach Aussage des verdienstvollen Denkmalpflegers Adolf Friedrich Lorenz [1] von 1526 bis 1532 unter Leitung von Hans Percham aus Wittstock errichtet worden war. Gemeinhin wurde hier die Bezeichnung im Unterschied zu ihrer allgemeinen Definition ausschließlich für diesen Turmbau verwendet.
Bedauerlicherweise findet das Bauwerk in der berühmten Vicke-Schorler-Rolle keine Berücksichtigung [2]. Schorlers Weg führte ihn zwar zum Steintor. Wenngleich natürlich dieses doch wichtige Tor Berücksichtigung in seiner Darstellung fand (im Unterschied zu den Mauerstrecken beiderseits hin zum Kröpeliner Tor beziehungsweise zum Mühlentor) war der imposante Zwingerbau, der zu Schorlers Zeit bereits existierte, indes auf der Rolle nicht verzeichnet.
Allerdings weisen verschiedenen Stadtansichten und Stadtpläne den Zwinger - mehr oder weniger deutlich und in unterschiedlicher Gestalt und Qualität wiedergegeben - aus. Aus dieser Einbeziehung ist zu schließen, dass sich das Bauwerk nahezu genau südlich vor dem Tor befunden hat und eine Straße in die Stadt direkt östlich daran vorbeiführte. In diesem Kontext scheint die älteste Erwähnung jene bei Wenzel Hollar aus dem Jahr 1625 [3] zu sein. Das ist nicht zuletzt wohl der Tatsache geschuldet, dass die Vielzahl der überlieferten Gesamtansichten von Rostock die Stadt in der Regel von Norden, das heißt über die Warnow geschaut, abbilden. Bei Hollar befindet sich der Zwinger vor dem Tor hinter einem geschwungenen Graben auf einer als "Rundehl" [4] bezeichneten Befestigung. Caspar Merian bezeichnet 1653 [5] den Zwinger als "Der Grosse Thurn", verlegt ihn etwas nach Osten und belegt nunmehr südlich davon die im Verlaufe des Dreißigjährigen Krieges entstandenen Befestigungen [6], ein so genanntes Ravelin [7]. Für die Zeit des damals Europa erschütternden Krieges verzeichnen Bertram Christian von Hoinckhusen 1674 [8] und ein Rekonstruktionsplan von J. Boye aus dem Jahr 1913 [9] in unterschiedlicher Weise den Zwinger und sein befestigtes Umfeld. Aus dem 18. Jahrhundert gibt es einen ziemlich undeutlichen Beleg [10] 1717 bei Gabriel Bodenehr [11] und, im Gegensatz dazu sehr plastisch, die Zeichnung von Zacharias Voigt [12] aus dem Jahr 1737, in der von einer "Bastion am Zwinger" die Rede ist und dieser auch selbst dargestellt ist. In dieser erstmaligen Draufsicht von Süden gibt es viele Detail zu entdecken und auch die Farbigkeit spricht an. Ebenfalls recht bildhaft hinsichtlich des Zwingers ist die Federzeichnung von Hennings, datiert aus 1787 [13]. Etwa zur gleichen Zeit entstand der unerhört detaillierte und gründliche Stadtgrundriss von Julius Michael Tarnow [14], in dem das Zwingerareal genau zu sehen ist.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde 1814 [15], ebenfalls aufgenommen von Tarnow und gezeichnet und berichtigt von August Albrecht Christian Tischbein ein Plan von Rostock und seiner Umgebung durch Karl Christoph Stiller verlegt, der den Zwinger berücksichtigte. Auf dessen Grundlage schuf Lorenz 1914 eine Nachzeichnung [16], die für das Steintor, den Zwinger und deren Umgebung wahrscheinlich Grundlage für die Rekonstruktionszeichnung "Die Befestigungen der Stadt Rostock 1650-1700, Blatt III Steintor" war, die er in dem Aufsatz von 1934 veröffentlichte [17]. Bis fast an das Ende der Zwingerexistenz führt schließlich ein von W. Dugge für 1830 [18] gezeichneter und im Verlag von Johann Gottfried Tiedemann veröffentlichter Stadtplan, der den Zwinger nennt und vermerkt.
Die wohl bekannteste Abbildung des Zwingers vor dem Steintor verdanken wir Georg Christian Friedrich Lisch und Tiedemann [19]. Wenngleich mit Bezug auf den Verlag meist von
den Tiedemannschen Drucken die Rede ist, so müssen als Künstler andere Personen angenommen werden [20]. So darf wohl eher der Lithograf Johann Ludwig Hornemann Anfang der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts als Urheber dieses detailgetreuen farbigen Steindrucks von dem uns hier vorrangig interessierenden Bauwerks gelten. Es entstand im Rahmen des Vorhabens "Meklenburg in Bildern" des Archivars, Bibliothekars und Landeskonservators Lisch und seines Mitstreiters, des Unternehmers und Verlegers Tiedemann. "Tiedemann lieferte aus seiner Steindruckerei außerordentlich detailfreudige und naturgetreue, bestechend schöne und meisterhaft kolorierte Lithografien ... Lisch steuerte begleitende Texte bei, die weit über das hinausgingen, was die Bilder zeigten." [21]
Auszug
Um die gleiche Zeit erschien ebenfalls bei Tiedemann 1839 ein von A. Deinert geschaffenes "Tableau von Rostock und dessen Umgebung" sowie sechs Jahre später ein "Tableau von Rostock" mit unter anderen auch abweichenden Darstellungen des Zwingers [22]. Letzteres findet sich zweifarbig auch auf einem undatierten "Tableau von Rostock" [23]. An den Realitäten vorbei geht ein nach 1853 im Verlag Phillipp Colligion-M. Rippa Nachfolger veröffentlichtes Blatt von Gustav Frank. Es verzeichnet in dem zentral verwendeten sehr schönen Panorama Rostocks von Südosten etliche Jahre nach dessen Abbruch noch unverkennbar den Zwinger [24]. Zu erwähnen ist, gewissermaßen als Kuriosum, ein undatiertes und unsigniertes Aquarell [25]. Es zeigt romantisierend einen vielleicht träumerisch an eine der Stadtkanonen gelehnten jungen Mann und den Zwinger im Hintergrund.
Zum schließlichen Schicksal des Zwingers hielt Lorenz bereits 1914 fest: "Vor dem Steintor errichteten die Rostocker von 1526-32 einen mächtigen dicken runden Turm mit Geschützständen, den Zwinger, den unverständliche Neuerungssucht im Jahre 1849, angeblich wegen Baufälligkeit, niederreißen ließ, was nur mit Sprengmitteln gelang", denn man "brach ihn mit großen Kosten und Mühen mit Hilfe preußischer Pioniere ab [26]". Somit hatten sich spätere Rekonstruktionszeichnungen an den vorstehend genannten Belegen für die Existenz des imposanten Befestigungswerks zu orientieren. Immerhin hatte es vor dem Abbruch eine nach Lorenz´ Auffassung "zuverlässige Aufnahme" wichtiger Massen und Daten gegeben [27], was ihm die Umzeichung ermöglichte. In den "Rekonstruktionsversuch der Zwingeranlage vor dem Steintor in Rostock. 1526-65" [28] integrierte er darüber hinaus Skizzen der Befestigungssituation in diesem Areal bis 1630. Zudem verwies er ausdrücklich auf den Tarnow´schen Plan als Grundlage seiner Überlegungen und Zeichnungen.
Vor diesem Hintergrund wird nun besonders deutlich, welchen Verlust der Abbruch des Zwingers vor dem Rostocker Steintor für das überlieferte Bild der historischen Stadtbefestigungen bedeutet. "Er war ein für die Baugeschichte Norddeutschlands höchst bedeutsames Werk."[29] Eine solche Erkenntnis sollte dazu beitragen, Aktivitäten die tendenziell in Richtung der von Lorenz monierten "unverständlichen Neuerungssucht" gehen engagiert und mit Respekt vor dem historischen Erbe entgegenzutreten.
* Diese Abhandlung beruht nicht auf eigenen archivalischen Studien sondern berücksichtigt ausschließlich in der Literatur veröffentlichte Unterlagen
[1] Adolf Friedrich Lorenz.: Die Rostocker Stadtbefestigungen, in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock, 20(1934), S. 48
[2] Siehe Vicke Schorler: Warhaftige abcontrafactur der hochloblichen und weitberumten alten See- und Hensestadt Rostock, Heubtstadt im Lande zu Meklenburg 1578-1586, Hrsg. vom Oberbürgermeister der Seestadt Rostock, Rostock 1939; ebd. S. 30 f., Oscar Gehrig: Die Stadtbefestigung, Der Mauergürtel-Tore und Türme-Zingeln, Blockhäuser, in: Bemerkungen zu Einzelheiten der Rolle, Schorlers Rolle als heimatkundliche und baugeschichtliche Quelle
[3] Kupferradierung, ROSTOCHIUM URBS MEGAPOLITANA ANSEATICA ET MERCATURA ET UNIVERSITATE CELEBRIS
[4] Gemeint ist sicher ein Rondell = ein im Grundriß rundes oder gerundetes Artilleriebauwerk von besonderer Stärke, dessen Höhe der des angrenzenden Walls entspricht
[5] Kupferstich, Wahrer Geometrischer Grundtris der Stadtt Rostock
[6] Vgl. Joachim Lehmann: Die Stadtbefestigungsanlagen, in: Denkmale und Erbe der Rostocker Technikgeschichte, Rostock 1995, S. 66
[7] Ravelin = Außenwerk vor den Kurtinen älterer Festungen; Kurtinen = Teil des Hauptwalls einer Festung
[8] Kolorierte Handzeichnung, Abris des Walles der Stadt Rostock
[9] Photolithografie, Rostock zur Zeit des 30jährigen Krieges; die Situation in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hält auch Lorenz, Stadtbefestigungen,
S. 66 fest
[10] Kupferstich, Rostock in: Ingrid Ehlers, Ortwin Pelc, Karsten Schröder: Rostock - Bilder einer Stadt, Stadtansichten aus fünf Jahrhunderten, Rostock 1995, S. 70; das Problem ist wahrscheinlich der Vorlage oder der Druckqualität zuzuschreiben, denn es gibt neuerdings eine sehr viel klarere Wiedergabe des Stichs in: Frank Mohr, Gregor Stentzel: Rostocker Stadtbilder, Stadtansichten und Stadtpläne aus fünf Jahrhunderten (Rostock im Wandel der Zeit, Anmerkungen zu historischen Stadtbildern), Rostock 2005, S. 23
[11] Kupferstich, Rostock, Vogelschau
[12] Kolorierte Federzeichnung, Prospekt der Stadt Rostock
[13] Federzeichnung, Abriß der Stadt Rostock
[14] Die wohl zwischen 1780 und 1790 gezeichnete Stadtkarte blieb zunächst ungedruckt und erschien 1918 als Festgabe zur 700-Jahrfeier der Stadt Rostock
[15] Stich, GRUNDRISS DER STADT-ROSTOCK MIT DEN NAECHSTEN UMGEBUNGEN
[16] Enthalten in seinem Standardwerk Adolf Friedrich Lorenz: Die alte bürgerliche Baukunst in Rostock, Rostock 1914, Fotomechanischer Nachdruck Rostock 1991, Rostock im Jahre 1814, gezeichnet nach A. A. C. Tischbein, nach S. 39
[17] Siehe Anm. 1
[18] Lithografie, Plan von Rostock
[19] Vgl. hierzu Mecklenburg in Bildern, Mit geschichtlichen Erläuterungen von Georg Christian Friedrich Lisch zu 100 farbigen Ansichten aus der J.G. Tiedemann´schen Hof-Steindruckerei in Rostock, Nach den Ausgaben von 1842-1845 neu herausgegeben und zusammengestellt von Hanno Lietz und Peter -Joachim Rakow, Bremen 1994, S. 96
[20] Siehe dazu ausführlicher Ehlers u.a., S. 86 ff.; Mohr/Stentzel, S. 40/41
[21] Mecklenburg in Bildern, S. 11
[22] Mohr/Stentzel, s. 40/41
[23] Ehlers u.a., S. 122
[24] Zweifarblithografie, "Rostock mit Umgebungen"
[25] Ehlers u.a., S93 und 136/137
[26] Lorenz, Baukunst, S. 10
[27] Lorenz, Stadtbefestigung, S. 49 f.
[28] Ebenda, S. 52, Abb. 22
[29] Ebenda, S. 77
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